Der schnelle technische Fortschritt im Luftkrieg ermöglichte es vor allem Briten und Deutschen, in der zweiten Hälfte des Ersten Weltkriegs verstärkt Ziele im gegnerischen Binnenland mit Flugzeugen anzugreifen. Hauptsächlich sollten damit Abwehrkräfte gebunden und die Rüstungsproduktion gestört werden. Für solche strategischen Bombardierungen wurden eigene Flugzeugtypen wie der deutsche Gotha- und der britische Handley-Page-Bomber entwickelt, die immer weitere Strecken zurücklegen und größere Bombenlasten transportieren konnten.
Am Abend des 23. Oktober 1918 startete eine Bombergruppe der britischen Independent Force, eines zu strategischen Bombardierungen eingesetzten Kommandos der kurz zuvor gegründeten Royal Air Force, auf einem Flugplatz bei Nancy in Lothringen zu einem Angriff in Richtung Westdeutschland. Mit 150 Kilometern pro Stunde überflogen die Handley-Page-Bomber der Gruppe, die 750 Kilogramm schwere Bomben geladen hatten, in 2.500 Metern Höhe die Westfront und steuerten das Rhein-Main-Gebiet an, das sie kurz nach 21 Uhr erreichten. Der offizielle britische Bericht über den Einsatz verlautbarte später, Bahnstrecken „near Mainz“ seien „with good results” angegriffen worden. Tatsächlich warfen die Bomberbesatzungen sieben Bomben über Wiesbadener Stadtgebiet ab, das sie zweimal anflogen, bevor sie gegen 23 Uhr den Rückweg zu ihrer Ausgangsbasis antraten.

Erster Zeitungsbericht über den Luftangriff, „Wiesbadener Tagblatt“, 24. Oktober 1918, Abendausgabe (Digitale Sammlungen, Hochschul- und Landesbibliothek RheinMain). Am unteren Ende der Zeitungsseite findet sich eine Notiz, die das Erscheinungsbild des Kriegsgräberfelds auf dem Südfriedhof am Ende des Ersten Weltkriegs dokumentiert. © Hochschul- und Landesbibliothek RheinMain
Die Bombenabwürfe trafen Wiesbaden unerwartet. Verdunkelungsvorschriften waren nur unzureichend beachtet worden. Erst bei Beginn des Angriffs erloschen die Lichter der Stadt nach und nach, wie ein Zeuge von einem höhergelegenen Waldgebiet aus beobachtete, doch hatten die Flieger sich schon ausreichend an ihnen orientieren können, als sie noch brannten. Während die meisten der abgeworfenen Bomben nur Sachschäden anrichteten, etwa Glasfenster splittern ließen, wurde das Haus Riehlstraße 6 (heute: Emanuel-Geibel-Straße 6) völlig zerstört.
Von der sechsköpfigen Familie Marx, die im dritten Stock der Riehlstraße 6 wohnte, überlebte niemand den Bombentreffer. Daniel Marx, 57 Jahre alt, war Beamter in der preußischen Justizverwaltung. Er stammte aus Pinne (heute Pniewy, Polen) in der Provinz Posen im Osten des Königreichs Preußen, dem das frühere Herzogtum Nassau und seine Hauptstadt Wiesbaden seit 1866 ebenfalls angehörten. Seit 1900 ist Daniel Marx in Wiesbadener Adressbüchern nachweisbar, zunächst als Gerichtskanzlist, später als Kanzleisekretär, zuletzt als Kanzeiinspektor beim Königlich Preußischen Landgericht Wiesbaden. Seine Wohnungen, die er mehrfach wechselte, lagen stets in den neuen Stadtvierteln, die am Ende des 19. Jahrhunderts zur Aufnahme der rasch wachsenden Bevölkerung Wiesbadens errichtet worden waren. Mit seiner 1888 geborenen Frau Johannette hatte Daniel Marx vier Kinder. 1910 kam die Tochter Erna zur Welt, 1912 die Tochter Else. 1913 wurde als drittes Kind die Tochter Herta geboren, 1916 folgte der Sohn Paul.
Alle 14 Personen, die sich zum Zeitpunkt des Angriffs im Haus Riehlstraße 6 befanden, wurden verschüttet und in den nächsten Tagen tot oder tödlich verletzt aus den Trümmern geborgen. Alle Toten waren Zivilisten mit Ausnahme des 19-jährigen Soldaten Gustav Allwardt, der sich gerade bei seinen Eltern, dem Viehhändler Fritz Allwardt und seiner Frau Christine, aufhielt, als die Bombe das Haus traf. Die Beisetzung der Opfer des Luftangriffs im Kriegsgräberfeld des Südfriedhofs erfolgte am 28. Oktober 1918, zwei Wochen, bevor die Kampfhandlungen zwischen dem Deutschen Reich und seinen Kriegsgegnern mit dem Waffenstillstand am 11. November 1918 endeten.
Quellen
- George K. Williams, Biplanes and Bombsights. British Bombing in World War I. Air University Press, Maxwell Air Force Base, Montgomery, Alabama 1999
- Hessische Geburten-, Ehe-, Sterberegister (Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen)
- Adressbücher und Zeitungsberichte: Digitale Sammlungen, Hochschul- und Landesbibliothek RheinMain
- Bestände der National Archives (Großbritannien)
- Amtliche Kriegsgräberlisten des Südfriedhofs in den Beständen des Stadtarchivs Wiesbaden