Drei dicht nebeneinander verlegte Steinplatten im Gräberfeld der ausländischen Kriegstoten im Friedhofsabteil C 1 kennzeichnen die Sammelgrabstätte von neun Menschen – sechs Zwangsarbeiterinnen aus der Sowjetunion und drei Kindern –, die am 9. März 1945 bei einem Luftangriff auf Wiesbaden getötet wurden. Die beiden Jungen und ein Mädchen im Säuglings- und Kleinkindalter – Wasilij Malikow, Viktor Niewko und Olga Ronglakowa, so die Schreibweisen ihrer Namen auf dem Grab – waren nicht die Kinder der erwachsenen Frauen, mit denen sie zusammen bestattet wurden, doch waren ihre Mütter ebenfalls Zwangsarbeiterinnen aus der Sowjetunion. Alle drei Kinder waren in Wiesbaden geboren.
Die Identität der Kinder und ihrer Eltern ist anhand der Schreibweisen ihrer Namen nur schwer zu ermitteln. Namen von polnischen und sowjetischen Kriegsgefangenen, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern und ihren Kindern wurden in deutschen Dokumenten aus dem Zweiten Weltkrieg zumeist willkürlich geschrieben und sind daher überwiegend nicht zutreffend, sondern in mehr oder weniger entstellter Form überliefert. Den für die Verwaltung der Zwangsarbeit zuständigen Stellen im nationalsozialistischen Deutschland kam es lediglich darauf an, eine Person mit irgendeinem Namen erfassen zu können; ob dieser Name richtig geschrieben war, erschien dabei zweitrangig.
Die Schreibung des Familiennamens von Viktor „Niewko“ und seiner Mutter zum Beispiel ist in dieser Form nicht nur auf seinem Grab zu finden, sondern bereits im Wiesbadener Sterberegister belegt, wo am 19. März 1945 der Tod des Kindes eingetragen wurde, sowie in Dokumenten der Nachkriegszeit, die auf diese amtliche Quelle zurückgehen.
Andere Dokumente, die in den Beständen der Arolsen Archives – früher als Internationaler Suchdienst (ITS) bekannt – auch im Internet zugänglich sind, lassen jedoch erkennen, dass der Name in der Form „Niewko“ nicht zutreffend überliefert ist. Als Mutter des Jungen erscheint in diesen Quellen die 1915 geborene Feodora Nirmenko, die seit August 1942 zunächst in Martinsthal im Rheingau als Zwangsarbeiterin in der elektrotechnischen Fabrik EFEN eingesetzt war und am 22. Juli 1943 in Wiesbaden – den Unterlagen zufolge in den Städtischen Krankenanstalten – ihren Sohn Viktor zur Welt brachte. Meldeadresse Feodora Nirmenkos zum Zeitpunkt der Entbindung war ein Lager für Zwangsarbeitskräfte in Wiesbaden mit dem offiziellen Decknamen „Lager Willi“ an der Ecke Mainzer Straße/Welfenstraße, dasselbe Lager, in dem ihr Kind knappe zwei Jahre später sein Leben verlor.

Kennkarte für Feodora „Nirmenko“, angelegt am 5. Februar 1943 (StadtA WI, Best. K3). Die Karte mit Fingerabdrücken und Passfoto stammt aus der „Ostarbeiterkartei“ der Ausländerbehörde des Wiesbadener Polizeipräsidiums, in der im Zweiten Weltkrieg die in der Stadt eingesetzten Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus Polen und der Sowjetunion erfasst wurden. Auch „Nirmenko“ ist nicht die richtige Schreibung des Familiennamens, der tatsächlich Iremenko, Jiremenko, Irjomenko oder Jerjomenko gelautet haben könnte. © Stadtarchiv Wiesbaden
Die meisten Quellen geben den Familiennamen des Kindes von Feodora „Nirmenko“ mit einer Schreibvariante ihres eigenen Nachnamens wieder und dokumentieren damit eine außereheliche Geburt. Eine 1947 vom Standesamt Wiesbaden auf Befehl der US-Militärregierung zusammengestellte Liste aller während des Zweiten Weltkriegs in der Stadt geborenen Kinder von Eltern aus der Sowjetunion hingegen führt den Jungen unter dem Namen „Viktor Serikow“ auf und nennt einen Mann namens „Peter Serikow“ als Vater; die Mutter erscheint hier als „Feodora, geb. Nirmenko“.

Standesamt Wiesbaden, Formblatt gemäß USFET-Befehl vom 8. Januar 1946, Liste der Geburten von Personen der Vereinten Nationen und aller anderen Ausländer, deutscher Juden und Staatenlosen (seit 1939), hier: Nationalität „Rußland“, 1947. Im Vorschaufenster ganz unten: Viktor Serikow, geb. 22.07.1943. Bestände der Arolsen Archives (DocID: 85951875). © Arolsen Archives
Tod im „Lager Willi“
Das „Lager Willi“ war ein Lager für Zwangsarbeitskräfte, die von der Wiesbadener Stadtverwaltung beschäftigt wurden. Für kleinere örtliche Privatunternehmen, die Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen einsetzten, aber keine eigenen Unterkünfte mit Verpflegung und Bewachung zur Verfügung stellen konnten, übernahm die Stadt zudem im „Lager Willi“ die Unterbringung dieser Männer und Frauen und stellte dies den Unternehmen in Rechnung.
Das Lager bestand aus einem Gebäude, das zuvor die 1936 zwangsweise eingerichtete und 1942 geschlossene „Jüdische Schule“ beherbergt hatte, sowie aus Baracken auf benachbarten Grundstücken. Es wurde ab Jahresbeginn 1943 bezogen. Zunächst war es zur Unterbingung von Frauen aus der Sowjetunion bestimmt, die in Wiesbaden bei der Müllabfuhr arbeiten sollten. Mit 366 Personen aus Ost- und Westeuropa – unter ihnen 14 Kinder von Zwangsarbeiterinnen aus der Sowjetunion („Ostarbeiterinnen“) – erreichte das Lager im Juli 1944 seine höchste Belegungszahl.
Eine Besonderheit des „Lagers Willi“ war seine Funktion als „Entbindungslager“ für schwangere Zwangsarbeiterinnen aus Wiesbaden und der Umgebung der Stadt. Im Jahr 1944 wurde zu diesem Zweck eigens ein Entbindungsbett angeschafft. Später wurde ein Kinderzimmer mit einem Wasseranschluss eingerichtet. Insgesamt blieben die hygienischen Verhältnisse für Mütter und Kinder im Lager dennoch ebenso mangelhaft wie ihre Ernährungssituation, auch wenn sich kein Hinweis auf eine vorsätzliche Unterversorgung der Säuglinge und Kleinkinder von Zwangsarbeiterinnen aus Osteuropa findet, wie sie in den sogenannten „Ausländerkinder-Pflegestätten“ praktiziert wurde.
Bei einem alliierten Luftangriff am Mittag des 9. März 1945 wurde das „Lager Willi“ getroffen und teilweise zerstört. 15 Frauen, zwei Männer und die drei im Sammelgrab bestatteten Kinder, die alle (beziehungsweise, im Fall der Kinder, deren Mütter) aus der Sowjetunion stammten, kamen dabei ums Leben. Die Zahl der Todesopfer lag auch deswegen relativ hoch, weil für die Lagerbewohner keine ausreichenden Luftschutzräume existierten. Auch die sechs im Sammelgrab beigesetzten erwachsenen Frauen wurden bei diesem Angriff getötet.
Beseitigte Kindergräber
Ursprünglich gab es im Abteil C 1 des Südfriedhofs wesentlich mehr Gräber von Kindern von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern als die wenigen, die heute noch bestehen. Eine Aufstellung aus dem Jahr 1955 verzeichnet 120 solcher Gräber im gesamten Wiesbadener Stadtgebiet, davon allein 96 auf dem Südfriedhof. Die meisten Gräber dieser Liste wurden ab 1955 nicht mehr gepflegt und später beseitigt: Der Bundesinnenminister hatte im selben Jahr entschieden, dass Kindern von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern, die während des Zweiten Weltkriegs in Deutschland nicht durch „unmittelbare Kriegseinwirkungen“ ums Leben gekommen waren – sondern, wie in zahllosen Fällen, durch das Zusammenwirken von Mangelernährung, allgemein krankheitsfördernden Lebensverhältnissen und ungenügender Gesundheitsfürsorge –, die Pflege ihrer Gräber aus öffentlichen Mitteln nicht länger zustehen sollte.
Die Kinder aus dem „Lager Willi“, die Opfer des Luftangriffs am 9. März 1945 geworden waren, betraf diese Entscheidung allerdings nicht. In ihrem Fall lagen die „unmittelbaren Kriegseinwirkungen“ als Todesursache ohne jeden Zweifel vor, sodass ihre Gräber weiter gepflegt wurden und bis heute erhalten sind.
Quellen
- Hedwig Brüchert, Zwangsarbeit in Wiesbaden. Der Einsatz von Zwangsarbeitskräften in der Wiesbadener Kriegswirtschaft 1939 bis 1945 (Schriften des Stadtarchivs Wiesbaden, 8), Wiesbaden 2003
- Kerstin Kersandt, Doppelte Entrechtung – „Ostarbeiterinnen“ und ihre Kinder im Zweiten Weltkrieg im Raum Wiesbaden-Mainz, in: Hedwig Brüchert, Michael Matheus (Hg.), Zwangsarbeit in Rheinland-Pfalz während des Zweiten Weltkriegs. Mainzer Kolloquium 2002 (Geschichtliche Landeskunde, 57), Stuttgart 2004, S. 55–64
- Bestände der Arolsen Archives
- Bestände des Stadtarchivs Wiesbaden