Am südlichen Rand des Kriegsgräberfeldes im Friedhofsabteil C 1 befinden sich Gräber von ausländischen Toten des Zweiten Weltkriegs und vor allem seiner frühen Nachkriegszeit, die durch ihre individuelle Gestaltung auffallen. Auch diese Gräber werden nach den Bestimmungen des „Gräbergesetzes“ von 1965 auf Dauer von der Landeshauptstadt Wiesbaden erhalten und gepflegt, in ihrem Fall jedoch unter Beibehaltung der von den Angehörigen und Freunden der Toten seinerzeit selbst ausgewählten und bezahlten Grabkennzeichen.
Die meisten Menschen, die hier bestattet sind, waren „Displaced Persons“ (DPs). Der Sammelbegriff fasst sehr unterschiedliche Gruppen von Ausländern zusammen, die die alliierten Truppen im Frühjahr 1945 in Deutschland antrafen: Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, sowjetische Kriegsgefangene, Überlebende der Konzentrations- und Vernichtungslager sowie Osteuropäer, die 1944 vor der Roten Armee nach Westen geflohen waren – unmittelbar nach Kriegsende rund elf Millionen Männer, Frauen und Kinder. Um sie unterzubringen und zu versorgen, nutzten die Militärregierungen und deutsche Verwaltungen Kasernen, aber auch Lager, die das NS-Regime hinterlassen hatte. In Wiesbaden wurden die DPs – nach Nationalitäten getrennt – hauptsächlich in einem großen Lager in der Gersdorff-Kaserne in der Schiersteiner Straße untergebracht.
Jurgis Elisonas war ein litauischer Zoologe, Pädagoge und Volkskundler, der zwischen den Weltkriegen eine herausragende Rolle im Bildungswesen seiner Heimat spielte. Er wurde 1889 in Aukštadvaris westlich von Vilnius geboren. Litauen war damals ein Teil des russischen Kaiserreichs. Jurgis Elisonas besuchte Schulen in Riga, Panevėžys und im russischen Pskow und beendete 1915 ein Universitätsstudium in St. Petersburg (damals Petrograd). Von 1915 bis 1917 diente er als Soldat in der russischen Armee und schloss sich 1918 den Streitkräften des mit der Unabhängigkeitserklärung im Februar dieses Jahres neu gegründeten litauischen Staates an. Von 1919 bis 1940 war er als Lehrer und Direktor an Gymnasien in Panevėžys und Kėdainiai tätig; daneben lehrte er als Professor an der 1922 gegründeten „Universität Litauens“ (Lietuvos universitetas). Als Autor von Lehrbüchern entwickelte er unter anderem eine zoologische Fachterminologie auf Litauisch, die es vor der Unabhängigkeit nicht gegeben hatte.
Nach der Annexion Litauens durch die Sowjetunion 1940 war Jurgis Elisonas als Angehöriger der bürgerlichen Bildungs- und Führungsschicht in Gefahr, vom stalinistischen Geheimdienst NKWD verhaftet und deportiert zu werden. Tatsächlich wurde er jedoch nach kurzer Haft freigelassen und entging der Deportation. In welchem Verhältnis er sich ab dem folgenden Jahr zur deutschen Besatzungsmacht befand, ließ sich in der Recherche nicht eindeutig klären. Litauische biografische Darstellungen erwähnen eine Tätigkeit als Museumsdirektor von 1942 bis 1944, einen gescheiterten Fluchtversuch nach Schweden, woher seine Vorfahren stammten, im Jahr 1944 und eine daran anschließende kurzzeitige Inhaftierung durch die Deutschen.
Ebenfalls unklar ist, wie Jurgis Elisonas, seine Frau und ihre beiden Kinder schließlich nach Deutschland gelangten. Eine Liste, die die Gemeinde Gaustadt, heute ein Stadtteil von Bamberg, nach dem Krieg auf Befehl der amerikanischen Militärregierung anlegte, belegt, dass sich die ganze Familie ab September 1944 dort aufhielt. In einer anderen Nachkriegserfassung der Ausländer im Landkreis Bamberg ist unter der Rubrik „Besch.[äftigungs]-Art während des Krieges“ für alle vier „Arbeiterin“ eingetragen, was ebenso auf eine Deportation zur Zwangsarbeit schließen lässt wie ein weiteres Dokument aus demselben Kontext, das Jurgis Elisonas und seine Frau Ona Elisonienė, von Beruf Ärztin, auf einer Lohnliste aus dem Jahr 1945 nachweist, die das „Inselwerk Gaustadt“ geführt hatte. Hinter diesem Decknamen verbargen sich Produktionsstätten der Nürnberger Aluminiumwerke, die am Ende des Zweiten Weltkriegs zusammen mit anderen Betrieben der Rüstungsindustrie in eine große Textilfabrik in Gaustadt ausgelagert waren. Ab dem Februar 1945 war die Familie im Nachbarort Tütschengereuth gemeldet. Zwei Monate später wurden die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in Bamberg und seiner Umgebung durch den Einmarsch der US-Armee befreit.

Landratsamt Bamberg, Formblatt gemäß USFET-Befehl vom 8. Januar 1946, Verzeichnis von Personen auf der Lohnliste des Inselwerks Gaustadt, hier: Nationalität „Litauen“, 1948. Im Vorschaufenster ganz unten: Jurgis Elisonsas [sic], letzter Eintrag in der Liste: Ona Elisonienė. Bestände der Arolsen Archives (DocID: 69837015). © Arolsen Archives
Bei der Registrierung als DPs gab die Familie Elisonas als ihren gewünschten zukünftigen Aufenthaltsort „ein unabhängiges Litauen, frei von russischer Besatzung“ an (nepriklausomą Lietuvą laisvą nuo rusų okupacijos). Unter den Bedingungen der europäischen Nachkriegsordnung war dies kein in absehbarer Zeit erreichbares Ziel, doch drohte den DPs aus den baltischen Staaten zumindest nicht die unfreiwillige „Repatriierung“ in ihre erneut von der Sowjetunion annektierte Heimat.
Jurgis Elisonas verstarb am 4. Januar 1946 in den Wiesbadener Städtischen Krankenanstalten an einem Krebsleiden. Unter welchen Umständen die zu diesem Zeitpunkt im DP-Camp in der Gersdorff-Kaserne registrierte Familie nach Wiesbaden gelangt war, ist wiederum unklar. Ona Elisonienė verstarb 1949 in Bayern. Der damals 22-jährigen Tochter des Ehepaars gelang es im gleichen Jahr, zusammen mit ihrem 12-jährigen Bruder in die USA auszuwandern. Nachdem sich ihr Sohn erfolgreich darum bemüht hatte, wurde Ona Elisonienė 1970 aus dem Grab in ihrem Sterbeort in die Ruhestätte ihres Mannes auf dem Wiesbadener Südfriedhof umgebettet.
Quellen
- Wolfgang Jacobmeyer, Vom Zwangsarbeiter zum Heimatlosen Ausländer. Die Displaced Persons in Westdeutschland 1945–1951 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 65), Göttingen 1985
- Hedwig Brüchert, Zwangsarbeit in Wiesbaden. Der Einsatz von Zwangsarbeitskräften in der Wiesbadener Kriegswirtschaft 1939 bis 1945 (Schriften des Stadtarchivs Wiesbaden, 8), Wiesbaden 2003
- Saulius Sužiedėlis, Lithuanian Collaboration during the Second World War: Past Realities, Present Perceptions, in: Joachim Tauber (Hg.), „Kollaboration“ in Nordosteuropa. Erscheinungsformen und Deutungen im 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2006, S. 140–163
- Andreas Dornheim, Svenja Gierse, Stefanie Kießling, Erba – verwobene Geschichte. Begleitheft zur gleichnamigen Ausstellung im Rahmen der Landesgartenschau Bamberg 2012, Bamberg 2012
- Io Josefine Geib, Wiesbaden und die Migration. Grundzüge einer städtischen Einwanderungsgeschichte seit 1945 (Schriften des Stadtarchives Wiesbaden, 16), Wiesbaden 2023
- Informationen über Jurgis Elisonas im Internet (auf Litauisch)
- Bestände der Arolsen Archives
- Bestände des Stadtarchivs Wiesbaden